Märkischer Kreis

Aufarbeitung der Vergangenheit: Urteil gegen KZ-Sekretärin rechtskräftig

Am 20. August 2024 bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil gegen die 99-jährige Irmgard F., ehemalige KZ-Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof, die wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen zu zwei Jahren Bewährungsstrafe verurteilt wurde, was die Relevanz der rechtlichen Bewertung von Schreibtischtätern in der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen unterstreicht.

Die jüngsten Entwicklungen im rechtlichen Umgang mit Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sind sowohl bedeutend als auch emotional aufgeladen. In einem wegweisenden Urteil hat der Bundesgerichtshof am 20.08.2024 die Strafe gegen die ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof, Irmgard F., bestätigt. Ihr wird Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen vorgeworfen. Die Rechtsfolge: zwei Jahre Bewährungsstrafe, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters von 99 Jahren und der geringen Relevanz des Strafmaßes als weniger bedeutsam erscheint.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist nicht nur ein juristischer Akt; sie wirft Fragen auf über die Rolle von „Schreibtischtätern“ in einem System des organisierten Verbrechens. Die Richterinnen und Richter haben hier einen wichtigen Schritt in Richtung Aufarbeitung der historischen Verantwortung geleistet. Irmgard F. war in der Zeit, als sie als Sekretärin im Lager tätig war, unverzichtbar für die Aufrechterhaltung des Betriebs des Konzentrationslagers. Dies stellt die oft benutzte Erzählung in Frage, dass nur diejenigen, die direkt an den Gräueltaten beteiligt waren, als wirklich schuldig erachtet werden können.

Die Rolle der Sekretärin in Stutthof

Das Urteil des Landgerichts Itzehoe aus dem Jahr 2022 konnte schließlich einer Überprüfung durch den Bundesgerichtshof standhalten. Die ausführlichen Urteilsbegründungen legen dar, dass die Angeklagte durch ihre Position entscheidend zur Durchführung der verbrecherischen Aktivitäten im Lager beigetragen hat. Auch wenn sie nicht diejenige war, die die Taten direkt ausführte, unterstützte sie die Haupttäter durch ihre administrative Tätigkeit. Ihr Einsatz an vorderster Front im bürokratischen Apparat des KZ Stutthof machte sie zum Teil des mörderischen Systems.

Ein Anwalt der Nebenkläger betonte die symbolische Bedeutung des Urteils: „Man kann sich auch mit einer Schreibmaschine schuldig machen.“ Dies unterstreicht die tiefere Verantwortung, die in den Strukturen des Nationalsozialismus verankert ist, wo viele Beteiligte zwar nicht die Mordhandlungen direkt vollzogen, aber dennoch aktiv am System mitarbeiteten.

Im Urteil wird klar, dass Irmgard F. ihrer Rolle als Sekretärin nicht nur nachkam, sondern durch ihre „zuverlässige und gehorsame“ Art die Mordmaschinerie in Stutthof aufrechterhielt. Dies zeigt, dass mit ihrer Schreibtätigkeit eine erhebliche moralische Verantwortung einherging, was die Frage aufwirft, wie weit das Verständnis von Schuld in solchen Kontexten reicht.

Historische Aufarbeitung der Schuld

Die weichen Grenzen zwischen Schuld und Unschuld spielen in der Betrachtung dieser historische Prozesse eine zentrale Rolle. In einem ausgesprochenen Urteil von 101 Seiten schildert das Gericht die Grausamkeiten, die die Opfer des Lagers erlitten haben. Dennoch bleibt der direkte Bezug zu Irmgard F. im Vergleich zu den massiven Verbrechen, die im Lager begangen wurden, begrenzt. Ihre Dienstbereitschaft und die damit verbundene, psychisch unterstützende Rolle gegenüber den Haupttätern werden jedoch ausreichend gewürdigt.

Ein weiterer Aspekt, der in den Urteilsbegründungen diskutiert wird, ist die Frage der freien Willensentscheidung. Das Gericht stellte fest, dass es zwar keine Beweise gab, dass Irmgard F. ein persönliches Interesse am Tod der Gefangenen hatte, ihre Verantwortung jedoch nicht gemindert werde. Auch wenn sie als „dienstverpflichtet“ galt, war ihre Entscheidung, im Lager zu arbeiten, freiwillig und hat sie selbst in die mahnende Nachwelt getragen.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, äußerte sich zu dem Urteil und betonte: „Für Schoa-Überlebende ist es enorm wichtig, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht wird.“ Solche Äußerungen zeigen, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch lange nicht abgeschlossen ist und die Gesellschaft weiterhin gefordert ist, sich mit den Überbleibseln dieser Zeit auseinanderzusetzen.

Das Urteil stellt also nicht nur einen juristischen Abschluss dar, sondern ist Teil eines weiterhin andauernden Prozesses, in dem die Unterschiede zwischen Tätern werden sollten. Es bietet einen Lösungsansatz für die oft vernachlässigte Diskussion um die „Schreibtischtäter“, deren Taten zwar nicht in der ersten Reihe der Gräueltaten aufkamen, dennoch aber eine entscheidende Rolle im gesamten Verbrechenssystem spielten.

Einsicht in die historische Schuld

Es bleibt die Frage, wie diese Prozesse in der heutigen Gesellschaft reflektiert werden. Wie wirken sich diese juristischen Entscheidungen auf die Verantwortungseinsicht gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus aus? Diese Diskussionen sind zentral für die historische Bildung und das Verständnis von Schuld. Es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch in der Gegenwart noch immer von Brisanz und Relevanz ist.

Rechtlicher Kontext und Bedeutung des Urteils

Die rechtlichen Grundlagen für die Verurteilung von ehemaligen Funktionären in den NS-Konzentrationslagern basieren auf dem deutschen Strafrecht sowie auf dem Völkerrecht, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Das Urteil des Landgerichts Itzehoe und die Bestätigung durch den Bundesgerichtshof sind Teil eines umfassenderen Prozesses, der sich mit der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen des Nationalsozialismus befasst. Diese Prozesse dienen nicht nur der Gerechtigkeit für die Opfer, sondern haben auch eine wichtige historische Funktion, indem sie das öffentliche Bewusstsein für die Gräueltaten schärfen und den Wert der Rechtsstaatlichkeit hochhalten.

Die Frage der Beihilfe zum Mord und der Beihilfe zum versuchten Mord ist dabei von zentraler Bedeutung. In Deutschland wird hierbei nicht nur das Handeln, sondern auch das Unterlassen von Handlung als strafbar eingestuft, wenn eine Person in der Position war, das tödliche Geschehen zu beeinflussen oder es zu verhindern. Dies gilt insbesondere, wenn jemand, wie im Fall von Irmgard F., in einer direkten Beziehung zu den Haupttäter steht und in deren Entscheidungen involviert ist.

Gesellschaftliche Reaktionen und Wahrnehmung

Die Urteilsverkündung wurde von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit wahrgenommen. Kommentare aus der jüdischen Gemeinschaft, wie die von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, zeigen, dass das Urteil von überlebenden Opfern und deren Angehörigen als bedeutend und notwendig betrachtet wird. Sie sehen darin nicht nur eine Form der Gerechtigkeit, sondern auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Die öffentliche Diskussion um das Urteil wird von gemischten Reaktionen begleitet. Während einige es als lange überfällig betrachtet sehen, gibt es auch kritische Stimmen, die befürchten, dass ein solches Urteil keine ausreichende Verbindung zu den historischen Umständen und den Ausmaßen der Verbrechen aufzeigt. Diese Debatten zeigen die anhaltende Komplexität und die emotionalen Belastungen, die mit der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit verbunden sind.

Statistiken zur strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen

Trotz der jahrzehntelangen Bemühungen um die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen bleiben die Zahlen alarmierend niedrig. Viele der beteiligten Täter sind bereits verstorben oder können aufgrund von Altersgründen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Laut Daten des Bundesjustizministeriums wurden zwischen 2011 und 2021 nur wenigeHunderte Verfahren gegen ehemalige SS-Mitglieder oder Funktionäre der Konzentrationslager eröffnet. Die Wiederaufnahme dieser Verfahren hat jedoch in den letzten Jahren, insbesondere nach der Festnahme von Oskar Gröning, einem ehemaligen Rechnungsführer von Auschwitz, an Bedeutung zugenommen.

Die aktuellen Prozesse sind zudem ein Indikator für den sich verändernden gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Im Jahr 2020 wurden beispielsweise 24 Verfahren in Bezug auf NS-Verbrechen eingeleitet, was die Bemühungen um Aufarbeitung und Gerechtigkeit verdeutlicht. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Gesellschaft das Bedürfnis verspürt, auch nach so vielen Jahren den Opfern Gehör zu geben und den Täterkreis zu verurteilen.

Die gesellschaftliche Bereitschaft, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, bleibt also auch gegenwärtig ein wichtiger Faktor für die Fortführung solcher Prozesse.

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