BerlinCottbusDeutschlandMarzahn-Hellersdorf

Bürgerräte: Neue Wege zur Stärkung der Demokratie in Marzahn-Hellersdorf

In Marzahn-Hellersdorf wird ab 2025 ein Bürgerrat eingerichtet, um zufällig ausgewählte Bürger zur politischen Mitbestimmung zu bringen und so die hohe Politikverdrossenheit in der Region zu bekämpfen, nachdem bei der Europawahl 2024 über 75 Prozent der Wähler nicht zur Urne gingen.

In den letzten Monaten ist das Interesse an Bürgerräten in Deutschland deutlich gestiegen. Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf gibt es Pläne, einen solchen Bürgerrat zu etablieren, um die Bürger aktiv in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Der Ansatz, zufällig ausgewählte Bürger in die politische Mitbestimmung einzubeziehen, könnte als frischer Wind in der oft enttäuschten deutschen Demokratie gewertet werden.

Raiko Hannemann, Sozialwissenschaftler und Initiator der Bürgerratsbewegung in Marzahn-Hellersdorf, hebt hervor, dass viele Menschen, besonders solche in prekären Lebenslagen, sich von der Politik entfremdet fühlen. Eine erschreckende Zahl von 75 Prozent Nichtwählern beobachtete das nächstgelegene Wahllokal während der Europawahl im Juni 2024. Hannemann und seine Mitstreiter möchten diese Kluft überwinden und gerade die Stimmen derer anhören, die sich bisher nicht Gehör verschaffen konnten.

Einladungen für ungehobene Stimmen

Das geplante System für den Bürgerrat sieht vor, 1.000 zufällig ausgewählte Einwohner per Brief zu kontaktieren. Falls diese nicht reagieren, werden sie sogar persönlich von Ehrenamtlichen besucht, um ein freundliches Gespräch anzubieten. Dies soll den Kontakt zu Bürgern herstellen, die aus Frustration und Erfahrung mit der Bürokratie von politischen Prozessen Abstand genommen haben.

Ein zusätzliches Augenmerk liegt auf der Barrierefreiheit der Veranstaltungen und der Bereitstellung von Kinderbetreuung, sodass viele Menschen die Möglichkeit haben, an diesen Treffen teilzunehmen. Es ist geplant, dass etwa 50 bis 60 Teilnehmer in dem Bürgerrat sitzen, unterstützt von einem Team von Ehrenamtlichen. Die Bezirksverordnetenversammlung würde sich verpflichten, über die Ergebnisse des Rats zu diskutieren.

Bisher gab es in Deutschland mehrere Bürgerräte, die sich mit aktuellen Themen auseinandersetzten. Dazu zählen der Bürgerrat zur Ernährung, der auf Bundesebene stattfand, und der Kältebürger:innenrat in Berlin, der Vorschläge zur Erreichung der Klimaziele erarbeitete. Jedes dieser Gremien hat gezeigt, dass Bürgerengagement in einer strategischen und begleiteten Form möglich ist.

Kritik an der Umsetzbarkeit

Im Bezirk Tempelhof-Schöneberg gab es bereits ein Versuch mit Bürgerräten, der jedoch nach zwei Jahren eingestellt wurde. Dennoch plant die Bezirksverordnetenversammlung eine Wiederaufnahme dieses Formats. Anders sieht es in Marzahn-Hellersdorf aus: Hier wurde bereits grünes Licht für den ersten Bürgerrat gegeben. Hannemann und seine Gruppe optimistisch, dass im kommenden Jahr die Arbeit beginnen kann.

In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es bereits den „Insel-Rat“, der fest in die Planung lokaler Projekte integriert ist. Der Erfolg dieses Modells könnte als Anreiz dienen, die Idee der Bürgerräte weiter auszubauen und in anderen Bezirken zu etablieren.

Die Zukunft der Bürgerbeteiligung

Während der Diskurs über Bürgerräte weitergeht, bleibt abzuwarten, wie sich die politische Landschaft verändert und ob diese neue Form der Teilhabe den gewünschten Effekt auf das Vertrauen der Bürger in politische Prozesse haben wird. Der erste Bürgerrat in Marzahn-Hellersdorf könnte der Beginn von etwas Größerem sein, wenn es darum geht, Menschen zurück an den Verhandlungstisch zu bringen und ihre Stimme in der lokalen Politik wirksam zu vertreten.

Hintergrund der Demokratiekrise in Deutschland

Die politische Landschaft in Deutschland ist von verschiedenen Faktoren geprägt, die zu einer zunehmenden Politikverdrossenheit führen können. Dazu gehören die Wahrnehmung von politischem Stillstand, gravierenden Skandalen innerhalb der Parteien und der unzureichenden Berücksichtigung der Belange von Bürgerinnen und Bürgern durch die politischen Entscheidungsträger. Ein bemerkenswertes Merkmal der letzten Wahlen, speziell der Europawahl 2024, ist die hohe Zahl an Nichtwählern, die sich zunehmend von den politischen Prozessen distanzieren.

Zudem zeigt eine Umfrage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie vom März 2024, dass 55 Prozent der Befragten niemandem von der Etablierungsgesellschaft einen Vertrauensvorschuss geben. Dieses Misstrauen hat zur Folge, dass viele Menschen nicht mehr bereit sind, sich politisch zu engagieren, was im Zuge der Corona-Pandemie und politischer Entscheidungen noch verstärkt wurde. Die Idee der Bürgerräte könnte hier als eine Möglichkeit angesehen werden, um dem wieder entgegenzuwirken.

Erfolgsgeschichten und Perspektiven von Bürgerräten

In verschiedenen deutschen Städten haben Bürgerräte bereits positive Ergebnisse erzielt. Ein prominentes Beispiel ist der Bürgerrat zur Klimapolitik in Berlin, der 2022 konkrete Empfehlungen zur Erreichung der Klimaziele erarbeitete. Diese 47 Vorschläge fanden eine zustimmende Resonanz in der politischen Gemeindschaft und einige wurden sogar in die politische Agenda aufgenommen. Solche Erfolge fördern das Vertrauen in diese Form der Bürgerbeteiligung und zeigen, dass die Stimme der Bürger in der Politik Gehör finden kann.

Experten wie Miriam Hartlapp betonen die Notwendigkeit einer strukturierten Umsetzung und Nachverfolgbarkeit der Empfehlungen des Bürgerrats, um deren Relevanz und Wirkung zu gewährleisten. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Implementierung ist der Eindruck der Bürgerinnen und Bürger, dass ihre Vorschläge ernst genommen werden, was die Motivation zur Teilnahme an zukünftigen Bürgerräten steigern kann. In Städten wie München und Stuttgart wird ebenfalls an der Implementierung von Bürgerbeteiligungsformaten gearbeitet, um das Vertrauen in die Demokratie zu stärken und eine breitere Teilhabe zu ermöglichen.

Statistiken zur politischen Teilhabe

Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zum Thema politische Teilhabe der Bürger aus dem Jahr 2024 fühlt sich nur noch etwa 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gut informiert über politische Entscheidungen. Dies steht im Kontrast zu den historischen Werten von über 60 Prozent vor einem Jahrzehnt. Die Umfrage zeigt auch, dass 70 Prozent der befragten Bürger angaben, sich an politischen Entscheidungen nicht angemessen beteiligten zu fühlen.

Die Daten belegen nicht nur das bestehende Ungleichgewicht in der politischen Teilhabe, sondern auch die Dringlichkeit notwendiger Veränderungen in der politischen Kultur, um die Bürger zurückzugewinnen. Die Einführung von Bürgerräten könnte hierbei als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen werden, um durch direkte Beteiligung das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.

Quelle für weitere Informationen zu Umfragen: Institut für Demoskopie Allensbach.

Mit einem beeindruckenden Portfolio, das mehr als zwei Jahrzehnte Berufserfahrung umfasst, ist unser Redakteur und Journalist ein fester Bestandteil der deutschen Medienlandschaft. Als langjähriger Bewohner Deutschlands bringt er sowohl lokale als auch nationale Perspektiven in seine Artikel ein. Er hat sich auf Themen wie Politik, Gesellschaft und Kultur spezialisiert und ist bekannt für seine tiefgründigen Analysen und gut recherchierten Berichte.
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"